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Kai-Holger Brassel
Autor und Software-Entwickler

Habe ich schon erwähnt, dass ich in einem meiner nächsten Projekte eine neue Form der Meinungsbildung via Internet entwickeln will? Unabhängig davon möchte ich aber bereits jetzt einen kleinen Beitrag dazu leisten, den freien Zugang zu den Informationen des WWW für alle offenzuhalten – aber der Reihe nach.

Wie bekannt sein dürfte, behindern viele Staaten den freien Zugang zum Internet, um ihre Bevölkerung von unabhängigen Informationsquellen fernzuhalten. Die Beherrschung der Nachrichtenlage gehörte schon immer zu den bevorzugten Unterdrückungsmitteln totalitärer Staaten und trieb mitunter seltsame Blüten: Ceausescu fälschte sogar das Wetter – taz. Mit dem Internet als Medium verbreitete sich auch die Internet-Zensur. Bekannte Beispiele dafür sind die Great Firewall of China: Wie sie funktioniert und wie man sie umgeht | EXPERTE.de oder die Internet-Sperren im Iran: Blackouts gegen die Freiheit | Tagesspiegel.

Durch die russische Invasion der Ukraine ist dieses Thema vor über einem Jahr für mich noch deutlicher in den Fokus gerückt. Ich fragte mich: Warum gibt es so wenig Widerstand in der russischen Bevölkerung? Zur Antwort gehört die oft gewaltsame Unterdrückung kritischer Stimmen ebenso wie das Mitläufertum vieler. Aber wie ignorant muss man sein, um nicht wenigstens leise Zweifel an der teilweise grotesken Propaganda des Kreml zu hegen? Ich persönlich möchte die Menschen in Russland nicht einfach abschreiben. Dazu Reinhard Meier am 4. 1. 2024 in Putins Definition von «Terror» | Journal21:

Doch das Ausbleiben kritischer Stimmen im öffentlichen Raum und der von den staatlich kontrollierten Medien verbreitete Eindruck einhelliger Unterstützung für Putins Krieg muss nicht unbedingt bedeuten, dass das russische Volk tatsächlich in geschlossener Front mit dem Überfall auf das Nachbarland und der Opferung von Zehntausenden von einheimischen Soldaten einverstanden ist. Die Vermutung liegt jedenfalls nahe, dass sehr viele Bürger des russischen Vielvölkerstaates es vorziehen, den Kopf einzuziehen und sich in Schweigen zu hüllen, weil sie wissen, dass jeder öffentliche Protest nahezu unvermeidlich als «Diskreditierung der Armee» gebrandmarkt und jahrelange Gefängnisstrafen zur Folge hätte. […]

Für diese Schweige-Vermutung sprechen auch die Aussagen des 77-jährigen russischen Soziologen Lew Gudkow. Der Leiter des bekannten Lewada Meinungsforschungsinstituts, das 2016 vom Kremlregime als «ausländischer Agent» eingestuft wurde und deshalb nur noch eingeschränkt funktionsfähig ist, erklärte unlängst laut einem Bericht in der NZZ vom 29. Dezember, dass bei aktuellen Umfragen heute nur noch fünf Prozent der befragten Bürger bereit seien, sich auf Antworten einzulassen. Man kann sich leicht ausmalen, weshalb ein so überwältigender Teil der Angefragten es vorzieht, ihre Meinungen für sich zu behalten.

Im gleichen NZZ-Artikel berichtet der Slawist und Russlandexperte Ulrich M. Schmid, dass der Leiter des nichtstaatlichen, von ausländischen Geldquellen finanzierten Umfrageinstituts Russian Field versuche, die Stimmung in der russischen Bevölkerung durch die Einteilung in vier Meinungsgruppen (Cluster) zu messen. Gemäss dieser Analyse vom Oktober 2023 sollen 19 Prozent der Bevölkerung den «Falken» zugerechnet werden, die auf einen militärischen Sieg gegen die Ukraine setzen. 20 Prozent «Loyalisten» würden auch eine Verhandlungslösung akzeptieren, 48 Prozent «Tauben» hingegen einen Rückzug Russlands aus der Ukraine unterstützen. 13 Prozent werden der Gruppe der «Unentschlossenen» zugeordnet.

Um die zweifellos vorhandenen Tauben zu stärken und die Unentschlossenen zu gewinnen, muss der russischen Propaganda die Meinungsvielfalt des Internets entgegengesetzt werden. Eine der bekannteren Möglichkeiten zur Umgehung der Zensur sind Virtual Private Networks (VPN). Diese teilweise kostenlose Dienste sorgen nach Installation der entsprechenden Software auf Computer oder Handy für einen ungehinderten Zugang zum Internet. Das Problem dabei ist, dass die Server dieser Dienste relativ leicht von den Zensoren identifiziert und geblockt werden können.

Als Alternative dazu hat eine Software-Ingenieurin vor einigen Jahren ein System erdacht, das den Datenverkehr über immerzu wechselnde, private Computer leitet. Indem Menschen auf der ganzen Welt dafür kleine Mengen an Rechen- und Netzwerkkapazität spenden, ermöglichen sie den freien und sicheren Zugang zum Internet auch für diejenigen, die im Iran, China oder eben Russland unter Zensur leiden. Näheres dazu unter Snowflake: Wie du Internet-Zensur ganz einfach bekämpfen kannst und Snowflake ❄️.

Um selbst zu spenden, genügt es, in seinem Internet-Browser die Seite https://snowflake.torproject.org/embed.html aufzurufen, die Schneeflocke anzuschalten und den entsprechenden Browser-Tab nicht mehr zu schließen. Es sei nicht verschwiegen, das von Snowflake auch Leute profitieren können, die im Darknet ihren kriminellen Machenschaften nachgehen. Aber davon ist man als Spender keinesfalls betroffen, wie unabhängige Experten betonen (siehe FIfF – Internetzensur in Iran und Russland umgehen und Journalisten-Zentrum und TOR-Project - Initiativen für Pressefreiheit im Ukraine-Krieg).