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Kai-Holger Brassel
Autor und Software-Entwickler

Habe ich schon erwähnt, dass ich die Autorin in meiner alten Heimat Bochum auf der Tagung Klimafiktionen 2024 kennenlernen durfte?

Auch wenn sich das nach Widerspruch anhört: Theresa Hannig hat so etwas wie einen Tatsachenroman aus der Zukunft vorgelegt.

Die Hauptfigur des Romans, Johanna Stromann, tut eine Weile (die spannende Frage ist: wie lange eigentlich?) genau das, was auch die Autorin tut. Sie sucht nach dem Thema für ihren neuen Roman, recherchiert in der klimaaktivistischen Szene und beginnt ein Buch mit dem Titel Parts Per Million. Offensichtlich ist Stromann Hannigs Strohmann, oder vornehmer ausgedrückt, ihr Alter Ego. Nun finde ich Filme über Filmschaffenden, Songs über Musiker oder Bücher über Autorinnen eigentlich eher uninteressant, weil ich den Verdacht hege, dass die Nabelschau immer dann zum Thema wird, wenn einem zum Rest der Welt nichts mehr einfällt. Doch ist das in diesem Roman ganz anders, weil die zunächst um sich selbst und ihre bürgerlichen Verhältnisse kreisende Johanna schon bald aus ihrer Welt ausbricht und sich der Realität der Klimakatastrophe und ihrer Folgen stellt.

Diese Persönlichkeitsentwicklung verläuft ruckhaft und mit unglaubwürdig schnellen Wandlungen, die durch Sätze wie »Nachts liege ich in meinem Zelt und kann nicht schlafen. Marcus’ Worte haben eine Saite in meinem Inneren zum Klingen gebracht, von der ich nicht wusste, dass sie noch da war.« nicht plausibel werden. Ein Mangel, den die Autorin erkennt, wenn sie ihr Alter Ego einen Satz später sagen lässt: »Obwohl ich mein Leben damit verbracht habe, meine Gefühle in Worte zu fassen, fehlen sie mir jetzt.« (S. 78) Andererseits gelingt es Hannig, wie schon im Vorgängerbuch Pantopia, offensichtlich auf Grundlage eigener Erfahrungen und Beobachtungen, die Arbeits- und Lebenswirklichkeit eines bestimmten Milieus mit hohem Wiedererkennungswert zu schildern. Das erdet das Buch und lässt die fantastischen und spekulativen Elemente umso realistischer erscheinen. Und dazu zähle ich dann auch die verdichtete, der Dramaturgie des Romans geschuldete Persönlichkeitsentwicklung der Hauptfigur, einschließlich ihres persönlichen Reichsparteitagsmoments und der sexuellen Macht- und Gewaltfantasien, die über sie kommen. Die Zeichnung der anderen Protagonisten gelingt glaubhafter, weil diese eben nicht derart starken Wandlungen unterworfen sind.

Ein Nachwort klärt die eingangs erwähnte Frage, wann sich die Wege von Autorin und Hauptfigur wohl getrennt haben würden. Der Roman selbst lässt diese Frage nicht nur offen, sondern gibt sie am genialen Ende auch noch an die Leserschaft weiter. Es ist verständlich, wenn Hannig diese Frage an uns alle für sich selbst im Nachwort beantworten will, wohl auch um sich abzusichern. Andererseits hätte es m. E. genügt,  den reißerischen Untertitel »Gewalt ist eine Option« gegen »Eine Warnung« auszutauschen, um die Intention der Autorin offenzulegen und die Lesenden von vornherein mit der fruchtbaren Frage in das Buch zu schicken, wer da wohl wovor gewarnt wird.

Ich empfehle das Buch unbedingt zur Lektüre, weil es eindringlich zeigt, welchen Gesellschaftswandel der Klimawandel in Deutschland schon bald auslösen könnte, wenn wir einzeln und gemeinsam das wichtigste Problem unserer Zeit nicht aus der Verliererecke wieder nach vorn ins Rampenlicht holen. Aufgeben ist keine Option!